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Musik von A bis Z : N wie Negro Spiritual
Ursprung
Afroamerikanische Musik hat Wurzeln in Europa und Afrika. Gewaltsam aus ihrem Land gerissen, sangen die Gefangenen auf den Schiffen der Sklavenhändler. Sie erinnerten sich im Gesang an das an Bräuchen und Traditionen reiche Afrika, wo zu allen Lebenslagen gesungen wird: Geburten, Misserfolge, Spiele, Gebete, Werke, Krieg und Liebe...
Afrikanische Sklaven, die bereits 1619 nach Amerika verschifft wurden, trugen ihre eigene Geschichte der Entwurzelung in ihrer Musik mit. Das Erlernen von Liedern erfolgt in Afrika oft durch Wiederholung. Der Vorsänger singt eine Phrase vor, die SängerInnen singen sie nach. Es ist ein bisschen wie bei der Chorleiterin, die den SängerInnen vorsingt, die unsicher im Notenlesen sind oder Mühe bei einer schwierigen Passage haben. Diese Vorgehensweise wurde als lining out und später als Call and Response (Ruf und Antwort) bezeichnet.
Negro Spritual
Diese Lieder symbolisierten immer die Stimme und die Geschichte eines unterdrückten Volkes, dessen Musik die einzige Möglichkeit war, einen Moment der Freiheit zu erleben. Viele Lieder beziehen sich auf die Ankunft der Vorfahren auf amerikanischem Boden. Diese Gesangspraxis entwickelte sich vor allem in ländlichen Gegenden und wurde hauptsächlich während der Feldarbeit praktiziert (Bedeutung des Rhythmus, Langsamkeit, keine oder wenige Instrumente) und auch während der Kulte in protestantischen Kirchen (Pfingstgemeinden). Die Texte der Negro Spirituals sind im Wesentlichen vom Alten Testament inspiriert, sprechen aber auch über das tägliche Leben der Sklaven (Strapazen, Misshandlungen durch die Plantagenbesitzer, Suche nach einem Zuhause...). Es sind trotz allem meist Lieder der Hoffnung.
Richard Allen, Pastor der methodistischen Kirche, veröffentlichte 1801 eine erste Sammlung von Spirituals unter dem Titel: «A collection of spirituals Songs and Hymns Selected from various Authors».
Erst um 1860 begannen amerikanische Musikwissenschaftler Negro Spirituals zu transkribieren (es gab Tausende!). 1861 veröffentlichte die New York Times zum ersten Mal das berühmte Let My People Go. Das Stück wurde ein grosser Erfolg. Die weissen AmerikanerInnen entdeckten, dass die Sklaven eine eigene, originelle Musik geschaffen hatten, die unglaublich reich und tief bewegend ist. 1871 kam das Publikum in den Genuss der ersten Spirituals, die ein Chor ehemaliger Sklaven, die Fisk Julibee Singers, sang. Sie waren auf Konzerttour, um Geld für den Collegebesuch zu sammeln.
Drei Jahre später traten die Fisk Jubilee Singers vor dem Präsidenten der Vereinigten Staaten auf und tourten sogar durch Europa. Um sich jedoch den musikalischen Konventionen der Zeit anzupassen, orientierten sich die Spirituals am harmonischen Stil der damaligen Musik der Weissen.
Es existiert eine Aufnahme der Gruppe aus dem Jahr 1909, in der die Sänger den berühmten Song Swing Low Sweet Chariot interpretieren:
https://www.youtube.com/watch?v=GUvBGZnL9rE
Die ursprünglichen Rhythmen der Spirituals wurden für den Geschmack des weissen Publikums vereinfacht und die Härte der Singstimmen aufgeweicht. Die bekanntesten Gesangsgruppen und Solisten interpretierten die Spirituals mit klassisch gebildeten Stimmen. So wurden diese Lieder schnell Teil der amerikanischen Musiktradition. In den 1930er Jahren schrieb der weisse Komponist George Gershwin sein Opernmeisterwerk Porgy und Bess, das beide Kulturen auf subtile Weise miteinander verband. Dank dem Internet können wir uns diese Oper mit dem Ensemble der Uraufführung (1935) vollständig anhören, aufgenommen 1940 und 1942.
https://www.youtube.com/watch?v=PXLqAmXPQIk
Weil wir uns nun ein wenig vom Thema entfernen, möchte ich Ihnen nur den berühmtesten Ausschnitt dieser Oper zeigen und zwar in einer Interpretation, die, auch wenn sie sich vom Original entfernt, dank dem Zauber von Ella Fitzgerald und Louis Armstrong absolut überwältigend ist.
https://www.youtube.com/watch?v=FXk2zvL6v8M
Negro Spiritual oder Gospel?
Negro Spiritual und Gospel sind zwei kraftvolle und fesselnde Musikstile, die leider sehr oft synonym gebraucht werden. Doch es gibt einen bedeutenden Unterschied zwischen diesen beiden Stilen, entstammen sie doch unterschiedlichen historischen Kontexten und spiegeln zwei Theologien wider.
Der Musikstil Negro Spiritual entstand in der Zeit der Sklaverei zwischen 1760 und 1875 im ländlichen Nordamerika. Es ist eine anonyme kollektive Arbeit, die am Scheideweg steht zwischen einer afrikanischen Weltanschauung und der christlichen Spiritualität der Methodisten und Baptisten. Er thematisiert die Erfahrung der Versklavung. Die Texte zeigen eine Präferenz für das Alte Testament: Der allmächtige Gott wird sein Volk im Lauf der Geschichte befreien. Die Vereinigten Staaten fingen während des Amerikanischen Bürgerkriegs (1861-1865) an, sich für diese Musiktradition zu interessieren und sie schriftlich festzuhalten. Der Ausdruck Negro Spiritual entstand. Die Musik entwickelte sich weiter, es kamen neue Melodien hinzu und neue Texte, die alle a capella interpretiert wurden. Auch heute noch setzen sich viele, vor allem afroamerikanische SängerInnen und MusikerInnen, stark mit dieser Musik auseinander.
Der im Befreiungskampf der amerikanischen Sklaven entstandene Gospel wurde in den 1870er Jahren in den Ghettos der grossen amerikanischen Industriestädte ins Leben gerufen. Er verbindet das weisse Kirchenlied und den schwarzen Blues, der die Not des Lebens am Rande einer rassistischen Gesellschaft ausdrückt. Ein bekannter Autor war Charles Albert Tindley (1851-1933), Pastor einer Kirche in Philadelphia. Er schrieb We Shall Overcome, das die Hymne des Bürgerrechtsmarschs von Martin Luther King im Jahr 1960 wurde. Das Evangelium, vor allem das Neue Testament, und die individuelle Hoffnung jenseits der Geschichte sind die zentralen Themen des Gospels. Es ist ein sehr rhythmischer Musikstil, der von vielen Stars, nationalen und internationalen Ensembles und Chören aufgenommen wird, die oft aus evangelikalen Kirchen stammen.
Von der folgenden Hymne gibt es eine sehr berühmte und bewegende Version von Joan Baez, die Sie leicht finden werden. Hier aber eine Version für Männerchor zum Entdecken, die vom Morehouse College gesungen wurde. Gänsehaut garantiert!
https://www.youtube.com/watch?v=Aor6-DkzBJ0
Und bei uns?
Der populäre Komponist und Chorleiter Carlo Boller (1896-1952) war einer der ersten Dirigenten, der diese Musik zu unseren Chören brachte. Er hat viele Spirituals für gemischte Chöre arrangiert und auf Französisch übersetzt, etwas das heutzutage nicht mehr oft gemacht wird. Der Waadtländer Tenor Hugues Cuénod (1902-2010), für den Stravinsky in seiner Oper The Rakes Progress eine Rolle schrieb, war berühmt für seine subtilen Interpretationen von Poulenc und Satie und seine stimmliche Langlebigkeit, erreichte er doch das Alter von 105 Jahren. Weniger bekannt ist, dass er auch Negro Spirituals sang. Hier ist ein erstaunliches Beispiel aus dem Jahr 1935, in dem Cuénod mit unglaublicher Leichtigkeit von der sehr hohen Note zur tiefen wechselt.
https://www.youtube.com/watch?v=dNRtJOOQJxo
Seitdem gibt es in der Schweiz unzählige Chöre, die sich diesem Repertoire widmen. Die Schweizerische Chorvereinigung hat bei ihren Wettbewerben eine Kategorie für spezialisierte Chöre, in der Ensembles diese Musik regelmässig mit grossem Können vortragen.
Thierry Dagon (Übersetzung: Isabelle Schmied)