Nachrichten

International 12.09.2019

<< zurück

Vocalino Wettingen als Schweizer Gastchor am weltgrössten Gesangsfest

Der Ehemaligenchor der Kantonsschule Wettingen begab sich vergangenen Juli auf eine spezielle Konzertreise nach Tallinn: Als erst zweites Schweizer Ensemble qualifizierte sich das Vocalino für die Teilnahme am estnischen Liederfest "Laulupidu", das alle fünf Jahre die Kultur und Geschichte Estlands zelebriert. Unter den rund 500 Chören sind nur 20 nicht-estnische Formationen zugelassen, die gemeinsam mit über 30'000 Teilnehmern z.T. gleichzeitig auf der riesigen Sängerbühne stehen.

 

Im Vorfeld des Liederfests studierte der Wettinger Chor unter der Leitung von David Rossel 12 estnische Lieder ein, die Monate im Voraus aufgenommen und eingesandt werden mussten. Ergänzt wurden diese mit Gesängen aus der Anfangszeit der europäischen Gesangsbewegung; diese initiierte im frühen 19. Jahrhundert der Schweizer Sängervater Hans Georg Nägeli, inspiriert von den weltlichen Liedern, die der Dorfpfarrer Johannes Schmildin in seiner Heimat Wetzikon aufführte. Über Nägelis zahlreiche Vortragsreisen in Süddeutschland und weitere Mitstreiter wie dem nach Frankfurt emigrierten F. X. Schnyder von Wartensee schwappte die Chorbegeisterung ins nahe Ausland über; von dort fand sie dank der Baltendeutschen den Weg nach Estland.

 

Bevor es nach Tallinn losging, präsentierte der Chor sein historisches Schweiz-Estland-Programm in drei Konzerten im heimischen Aargau. Schon da deutete das emotionale Mitfiebern einzelner Auslandesten im Publikum an, was auf das Vocalino in Tallinn zukommen würde: Eine grenzenlose Begeisterung für Chorgesang, gepaart mit grossem Stolz auf die eigene Sprache, die während der Sowjetbesetzung aus der Öffentlichkeit verbannt worden war. Dies zeigte sich z.B. in der Gesamtprobe am ersten Tag mit allen Chören: Die zahlreichen Dirigenten sprachen ausschliesslich Estnisch – aber auch wenn man nicht das Glück hatte, neben einem Deutsch oder Englisch sprechenden Esten zu stehen, war das Vocalino bestens gewappnet, den mehrstündigen Probenmarathon zu bestreiten.

 

Am zweiten Tag durfte der Chor in der grossen Parade mitlaufen, die vier Kilometer zu Fuss von der Innenstadt zur Sängerbühne führte. Tausende von Menschen säumten den Wegrand und boten auch den ausländischen Chören einen herzlichen Empfang. Die lokalen Medien schienen sich besonders fürs Vocalino zu interessieren: In zwei Interviews mit dem estnischen Klassikradio und der Tageszeitung "Postimees" erzählte der Dirigent David Rossel von seinen Recherchen über die Schweizer Wurzeln des "Laulupidu", die in Estland offenbar wenig bekannt sind. Beeindruckend für alle Sängerinnen und Sänger war die Eröffnungszeremonie, die derjenigen der Olympischen Spiele in nichts nachsteht.

 

Der dritte Tag startete mit der Mitwirkung im Gottesdienst der ältesten Kirche Tallinns, wo das Vocalino seine Schweizer Lieder von Schmidlin und Nägeli zum Besten geben durfte. Spontan besuchte auch eine Schweizer Gruppe den Gottesdienst, die vom Dirigenten Rainer Held in einer Study-Tour am Laulupidu geführt wurden. Das Hauptkonzert am Nachmittag verdeutlichte dann nochmals eindrücklich, was das "Laulupidu" ausmacht: Eine friedliche und fröhliche Stimmung, trotz engster Platzverhältnisse nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Publikum. Dank des schönen Wetters waren über 100'000 Menschen ans Konzert geströmt, rund ein Zehntel der gesamten Bevölkerung Estlands. Zum abschliessenden Höhepunkt, als die inoffizielle Hymne "Mu isamaa on minu arm" (Meine Heimat ist meine Liebe) erklang, war nirgends mehr ein Durchkommen. Auch nach dem Konzert war an Bus oder Taxi nicht zu denken: Selbstverständlich pilgerte man mit den anderen zehntausenden Besuchern zu Fuss in die Innenstadt zurück. Ein unvergessliches Erlebnis für alle Sängerinnen und Sänger des Vocalino, an diesem einmaligen Gesangsfest teilgenommen haben zu dürfen!

David Rossel