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Musik 26.11.2020

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Musik von A bis Z: Y wie Ysaÿe

Der 1858 in Lüttich geborene Eugène Ysaÿe, hat seine Geige in der ganzen Welt zum Klingen gebracht. Bis zu seinem Tod im Jahr 1931 galt Eugène Ysaÿe als einer der grössten Geiger seiner Zeit. Als Schüler von Wienawski, Vieuxtemps, Freund von Camille Saint-Saëns, César Franck, Ernest Chausson und enger Freund von Königin Elisabeth war Eugène Ysaÿe ein «Superstar» seiner Zeit, der von seinen Zeitgenossen wegen seiner Virtuosität, aber auch wegen der Musikalität seines Spiels bewundert wurde.

Seine sechs Violinsonaten gehören zum Mount Everest des Geigenspiels, sie sind ein Gipfel der Virtuosität und das moderne Äquivalent zu den Sonaten und Partiten von Johann Sebastian Bach. Den informierten Geigen- und Musikliebhaber*innen sind sie zweifellos bekannt. Doch dies ist nur die Spitze eines Eisbergs, der bisher weitgehend unerforscht geblieben ist. Eugène Ysaÿe war nämlich auch ein talentierter Komponist, der sowohl von der Romantik Schumanns und Brahms' als auch von der Moderne Wagners oder César Francks beeinflusst war.

Mit der Ernennung zum Professor am Brüsseler Konservatorium 1886 nahm Eugène Ysaÿe, der nun bereits einen aussergewöhnlichen Ruf über die Landesgrenzen hinaus genoss, Rache an seiner Vergangenheit. Rache? Eugène wurde von seinem Vater, Nicolas, Dirigent des Lütticher Operettentheaters, ausgebildet. Eugène hatte einen Bruder, Joseph, mit dem er die meiste Zeit auf der Strasse verbrachte. Die Kinder waren vor allem auf der Suche nach Spass. Eugène war erst viereinhalb Jahre alt, als Nicolas ihn zwang, Musiktheorie und dabei auch noch Geige zu lernen. Sein Vater immatrikulierte ihn am Conservatoire de Liège. Eugène brillierte dort vor allem durch seine Abwesenheit. Sobald er konnte, lief er dem Unterricht seines Lehrers, Mr. Heynberg, davon. Letzterer ärgerte sich über die mangelnde Eignung des Lausbuben, und nach genau acht Semestern schrie er schliesslich laut und deutlich zu Nicolas:

- «Zum Teufel mit Ihrem schurkenhaften Sohn, machen Sie ihn zu einem Mistsammler statt zu einem Geiger!»

Eugène, elf Jahre alt, war nicht stolz darüber und musste nun seinem Vater, einem reisenden Dirigenten gehorchen, der ihn von Spa über Dünkirchen nach Dieppe mitnahm. Aber, als ob die schmerzliche Episode am Conservatoire de Liège der Auslöser gewesen wäre, begann Eugène zu arbeiten, zu lesen, alles zu lernen, was ihm unter die Augen kam. Und auch an seiner Musik zu arbeiten.

Im Keller des Hauses von Lüttich zähmte er unerbittlich seine Geige. Joseph, sein Bruder, hatte manchmal Tränen in den Augen. Er spielte auch, aber nicht so gut wie Eugène. Eines Tages gab er schliesslich zu:

- «Ich werde dieses schöne Instrument nie wieder so anfassen wie er. Es gibt nie nur einen König in einer Familie!»

König noch nicht, aber sicher ein Prinz. Im Alter von sechzehn Jahren erhielt Eugène Ysaÿe zwei Medaillen in Vermeil, eine für Violine, die andere für Kammermusik. Ysaÿe entdeckte die Stadt Brüssel, nachdem er ein Regierungsstipendium erhalten hatte, um Privatschüler von Henri Wieniawsky zu werden, der Henri Vieux-Temps am Konservatorium abgelöst hatte.

Als Eugène Ysaÿe seinerseits in den Lehrkörper des Brüsseler Konservatoriums eintrat, war er erst achtundzwanzig Jahre alt! Eugène Ysaÿe hat seine unbeschwerte Jugend nie vergessen. Wie um seine Unzulänglichkeiten auszugleichen, verschlang er ständig Bücher. In seinem Brüsseler Atelier, so berichtet Ernest Christen, sein Biograph und ehemaliger Schüler, befanden sich mehr als zweitausend Bände, von der Bibel bis Balzac, Julius Cäsar, Aristophanes, Titus Livius, Homer, Descartes, Rousseau und Diderot.

Und er bestand vor seinen Zuhörern darauf:

- «Reine Beweglichkeit der Finger ohne Gehirnleistung ist mir egal. Es geht nicht nur darum, gut zu spielen, es geht auch darum, das Gute, Schöne und Wahre zu spielen. Ein wahrer Virtuose muss Tugend, Elan, Persönlichkeit, ein grosses Kulturverständnis haben. Ich sehe meine Studenten gerne in Museen, in Ausstellungen, auf Konferenzen. Ich möchte wissen, ob sie lesen, was sie lesen und wie sie lesen.»

Es lohnt sich, alle Stücke dieses Komponisten zu entdecken. Rachel Kolly d'Alba hat eine CD aufgenommen, die höchstes Lob verdient und den passenden Namen trägt: «Passion Ysaÿe». Über ihre atemberaubende Virtuosität hinaus ist diese wunderbare Geigerin bei jedem Ton emotional beteiligt. Um dies zu realisieren, ein Satz der zweiten Sonate. Erkennen Sie das gregorianische Thema, das darin enthalten ist?

https://www.youtube.com/watch?v=dc30cYl2sP4

Thierry Dagon (Übersetzung: Isabelle Schmied)